Selberlebensbeschreibung by Jean Paul
Autor:Jean Paul [Paul, Jean]
Die sprache: deu
Format: epub
Herausgeber: Zeno.org
veröffentlicht: 2015-06-28T22:00:00+00:00
Fußnoten
1 Manchen Proseseelen sollte man ein bißchen Geisterfurcht als Religion und Poesie einimpfen oder lassen.
Dritte Vorlesung
[Schwarzenbach an der Saale]
Glauben Sie wohl, meine Zuhörer, daß Paul aus dem ganzen Aufpacken und Ausziehen und Fortziehen und Einziehen nichts im Gedächtnis behalten, keinen Abschied weder der Eltern noch der Kinder, keinen Gegenstand auf einem Wege von zwei Meilen, bloß den schon erwähnten Schneiders-Sohn ausgenommen, welchem er die Rußzeichnungen einiger Könige für seine Geliebte in die Tasche gesteckt? – Aber so ist Kind- und Knabenheit; sie behält Kleinstes, sie vergißt Größtes, man weiß bei beidem selten warum. Abschiede behält ohnehin die immer unten und oben und überall hinauswollende Kindheit weniger als Ankunft; denn ein Kind verläßt zehnmal leichter die langgewohnten Verhältnisse als die kurzgewohnten und erst im Manne erscheint gerade das Umgekehrte der Berechnung. Für Kinder gibt es kaum Abschiede; denn sie kennen keine Vergangenheit, sondern nur eine Gegenwart voll Zukunft.
Schwarzenbach an der Saale hatte freilich viel – einen Pfarrer und einen Kaplan – einen Rektor und einen Kantor – ein Pfarrhaus voll kleiner und zwei großer Stuben – diesem gegenüber zwei große Brücken mit der dazugehörigen Saale – und gleich daneben das Schulhaus so groß (wohl größer) wie das ganze Joditzer Pfarrhaus – und unter den Häusern noch ein Rathaus, nicht einmal gerechnet das lange leere Schloß.
Gerade mit dem Vater trat auch ein neuer Rektor an, Werner, aus dem Merseburgischen, ein schöner Mann mit breiter Stirne und Nase, voll Feuer[743] und Gefühl, mit einer hinreißenden Naturberedsamkeit voll Fragen und Gleichnisse und Anreden wie Pater Abraham; übrigens aber ohne alle Tiefe weder in Sprachen noch in andern Wissenschaften. Indes half er der Armut auf dieser Kehrseite durch einen Kopf voll Freiheit-Rede und Eifer ab; seine feurige Zunge war der Hebel der kindlichen Gemüter. Sein Grundsatz war, aus der Grammatik die nur allernotwendigsten Sprachformen – worunter er bloß die Deklinationen und Konjugationen verstand – lernen zu lassen und dann ins Lesen eines Schriftstellers überzuspringen. Paul mußte sogleich den Sprung hoch über Langens Colloquia hinweg in den Cornelius tun; und es ging. Die Schulstube oder vielmehr die Schularche faßte Abc-Schützen, Buchstabierer, Lateiner, große und kleine Mädchen – welche wie an einem Treppengerüste eines Glashauses oder in einem alten römischen Theater, von Boden bis an die Wand hinaufsaßen – und Rektor und Kantor samt allem dazugehörigen Schreien, Summen, Lesen und Prügeln in sich. Die Lateiner machten gleichsam eine Schule in der Schule. Bald darauf wurde auch die griechische Grammatik mit dem Erlernen der Deklinationen und der nötigsten Zeitwörter angefangen und ohne weiteren Aufenthalt bei der Grammatik sofort ins Neue Testament zum Übersetzen übergesetzt. Werner, der oft im Feuer der Rede sich selber so lobte, daß er über seine eigne Größe erstaunte, hielt auch seine fehlerhafte Methode für eine originelle, ob sie gleich nur eine Basedowsche war; aber Pauls fliegendes Fortschreiten wurde ihm ein neuer Beweis. Etwan ein Jahr darauf wurden einige wenige Deklinationen und Zeitwörter aus Danzens lateinisch geschriebener hebräischen Grammatik zu einer Schiffbrücke zum ersten Buche Mosis geschlagen, dessen Anfang, gerade die Exponierschwelle junger Hebräer, den ungebildeten Juden zu lesen verboten war.
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